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Kreisen um ein Thema

Je suis… Paro 
Teil 2

Mein letzter Beitrag hat viele Reaktionen geweckt. Kein Wunder – geht es doch um ein aufwühlendes Thema.

Einige fanden mein Beitrag verworren, gaben mir z.B. den Ratschlag, meinen Kopf jetzt bitte mal ruhen zu lassen. Ja, das kann ich verstehen: Normalerweise kreise ich so lange um ein Thema, bis Kopf und Herz und Bauch zusammengekommen sind – und erst dann schreibe ich etwas darüber.

Keine feste Meinung

Doch dieses Mal habe ich euch daran teilhaben lassen, wie ich um ein Thema kreise… so, wie ich es tue, wenn mich etwas bewegt und ich keine einfache Antwort weiß (und es geht mir gerade um ein Thema, das keine einfachen Antworten zulässt).
Dann sammle ich alle Eindrücke und Ideen, fühle in mich hinein, schreibe ein paar Worte, spüre, welche Resonanz sie in mir machen, erlaube mir, nicht gleich eine feste Meinung haben zu müssen, sondern immer weiter zu forschen. Im Moment fühlt sich diese Vorgehensweise stimmig an, und so lasse ich euch an meinem Kreisen teilhaben…

Verbundenheit

… und das Schöne ist, dass mir viele von euch einen Einblick in ihr eigenes Kreisen, Nachspüren, Fühlen, Empfangen gegeben haben – in ihren Mails und Antworten.
Und es berührt mich, teilhaben zu dürfen an euren Gedanken.

Ich habe das Gefühl, dass wir im Aussprechen, im Austauschen, im Zuhören und Reden immer mehr Klarheit finden. Nicht nur jeder für sich,  im stillen Kämmerlein, sondern im Austausch miteinander.  Und jeder bemüht sich, genau hinzuspüren und den eigenen Standpunkt zu klären. Und was dabei herauskommt ist letztlich immer: Liebe.


Hier ein paar Auszüge aus den Mails, die ich erhielt:

(Ich habe nicht alle gefragt, ob sie einverstanden sind, dass ich ihre Worte hier wiedergebe. Aber ich habe Ausschnitte gewählt, die auf jeden Fall ihre Privatsphäre wahren. Danke für eure Offenheit!)


Schön von dir zu hören. Ja, wir sind das alles. Seit Wochen, seit ich in der Flüchtlingshilfe bin, blutet mein Herz. Das ist nicht mehr steigerungsfähig. Und, so makaber es vielleicht klingt,
vielleicht verstehen wir mit Paris langsam, dass wir Beirut sind, Aleppo und wo auch immer Leid in der Welt ist und erwachen langsam mal aus unserem europäischen Dornröschenschlaf.


Ich glaube wir können uns mit allem verbunden fühlen, weil wir tatsächlich – so wie du sagst – mit allem verbunden sind. Deswegen können wir auch mitfühlen mit den Opfern. Aber eben auch mit den Tätern. Denn was haben alle Menschen gemeinsam? Sie wollen geliebt werden, als Individuum ernst genommen werden und sie wollen autonom agieren und entscheiden. All das wird vielen Menschen aber abgesprochen.

Und selbst in unserer Kultur, in der wir das Glück haben, so sein zu dürfen wie wir sind, haben wir unsere „Quelle“ verlassen und wissen gar nicht mehr was uns wichtig ist und was uns ausmacht. 
Ich würde mir wünschen, dass auch etwas über die Menschen gezeigt wird, die diese Taten verüben. Sie sind grausam und menschenverachtend – aber warum?!


Zum ersten Mal glaube ich zu verstehen, was mit diesem großen Satz gemeint ist, dass Frieden nur entstehen kann, wenn man ihn im eigenen Innern kultiviert. Und vor diesem Hintergrund liebe ich Deine Differenzierungen. Du bildest Dir nicht in erster Linie eine Meinung. Du schaust hin und lässt die offenen Fragen unbeantwortet. Das finde ich wunderschön.


Ich denke genauso. Wir sind mehr und weniger, je nach Blickwinkel. Wichtig ist es aus der eigenen Quelle heraus zu handeln und sich nicht von den ganzen Emotionen verschaukeln zu lassen.

 

Und jetzt noch etwas zu meiner Lesung in Bielefeld:
Ich bin leider noch nicht gesund genug für die lange Zugreise. Deshalb wird die Lesung verschoben. Und der neue Termin wird irgendwann vor oder nach Ostern 2016 sein.

Ich bin natürlich traurig, meine vielen alten (und einige neue) Freunde nicht zu sehen… Außerdem mag ich Lesungen und die anschließenden Diskussionen!
Und es tut mir auch leid für die Leute, die am Mittwoch extra in die Buchhandlung kommen, weil sie nicht erfahren haben, dass der Termin ausfällt.
Ich wünsche ihnen, dass stattdessen etwas Wunderschönes für sie passiert!

 

Je suis… Paro

Ich sitze mit einer abklingenden Grippe unter warmen Decken (deshalb auch so lange kein Beitrag hier), trinke heißes Ingwerwasser, lese ab und zu die Nachrichten in meiner bevorzugten Online-Zeitung, schaue mir Videoaufnahmen von Eckhard Tolles Vorträgen im Oktober an, mache mir Notizen, um für jede der DVDs einen erläuternden Text zu schreiben, lese wieder die Nachrichten, mache mir eine Hühnerbrühe, gehe eine Runde um den Block und erhalte verschiedene E-Mails, die mich auffordern, mich mit den Opfern der Anschläge in Paris zu solidarisieren.

Doch die einfache, kleine Aussage „Je suis Paris“ widerstrebt mir.
Warum eigentlich?, frage ich mich.
Und dann: Bin ich wirklich Paris?

Seit Tagen höre ich fast nichts außer den Vorträgen von Eckhart Tolle.
Ich lasse sie auf mich wirken, schließe zwischendurch die Augen, spüre die tiefere, stille Ebene in mir, freue mich, dass ich sie – dank meiner Meditationspraxis und den vielen tief gehenden Erfahrungen mit kreativen Prozessen – so schnell und leicht erfahren kann.
Und wenn ich mich dann frage, ob ich wirklich Paris bin, lautet meine ehrliche Antwort: Nein, das wäre entweder viel zu groß oder viel zu klein.

Im kleinen bin ich ja einfach nur diese Person „Paro“, die Identifikation mit diesem Körper und seiner Grippe, dieser Wunsch, schnell gesund zu werden, damit ich nach Bielefeld fahren und eine Buchlesung machen kann.

Im Großen aber bin ich diese innere Dimension von Bewusstheit, von Stille, von Präsenz.
Beim Malen bin ich der kreative Impuls, der in der Gegenwart erscheint. Ich bin sein Ausdruck, der malende Pinsel, die Farbe, die Empfindung, die sie in mir weckt, der äußere Raum, in dem ich male und der innere Raum in dem all diese Wahrnehmungen erscheinen.

Ich bin diese Gegenwart, dieses Bewusstsein. Ich bin das, was IST. Ich bin Paris.
Aber wenn ich Paris bin, bin ich auch Beirut, Damaskus, Mumbai und alle Opfer irgendwelcher Anschläge in der Welt.
Wenn ich aber alle Opfer irgendwelcher Anschläge in der Welt bin, bin ich auch alle Täter irgendwelche Anschläge in der Welt – und ich bin der Geist, der das reflektiert und der größer ist als alle Täter, Opfer, Ereignisse… Der Kopf kann das nicht verstehen, bzw. er wird es missverstehen. Aber in meinem tiefsten Fühlen und Wissen ist klar, dass es stimmt.

Wenn das jetzt der Experte vom Verfassungsschutz liest, könnte er sagen: Sie hat gerade zugegeben, dass sie der Täter war. Wir fahren da jetzt hin, und nehmen sie fest!
Und meine Nachbarin sagt: schön und gut, du bist also alles. Heißt das, wenn einer mit einem Messer auf dich zugeht, dass du dich nicht wehren darfst oder kannst, weil du auch der Täter und das Messer bist?

So denkt der Kopf…
Auch mein Kopf denkt ähnliche Dinge, er will das jetzt erklärt bekommen, während ich Ingwerwasser trinke, Hühnerbrühe esse, (ich bin der Täter, der Hühner umbringt), die letzte GALA lese ( Schweinsteiger mit seiner Verlobten in Manchester), eine Runde um den Block mache, um zu testen, ob ich vielleicht schon wieder gesund bin.

Und als ich auf meiner Runde Fuß vor Fuß setze, komme ich zu dem Schluss:
Ich bin zu allererst das, was ich „Paro“ nenne, hier und jetzt: Ein gewisses Zentrum von Bewusstsein und Unbewusstsein. Und wenn ich mich vom Unbewussten abwende und dem Bewusstsein zuwende, bin ich dieser Stein auf der Straße und die Straße auf der ich gehe, und der Wind, der sich warm gegen mein Gesicht lehnt, und dieser eine Moment, jetzt, und alles, was er enthält: Ein sich vertiefende Geheimnis, eine Offenbarung, die Stille und gleichzeitig alle Klänge, die es gibt.

Und eine tiefe, vibrierende Stimme in meinem Herzen sagt voller Genugtuung: Genau! Das ist Kreativität.
Und mein Kopf sagt gleich danach: Paro, könntest du mir das bitte erklären?

 

PS:
Dann habe ich das oben Geschriebene meiner Freundin Petra gezeigt, weil ich Sorgen hatte, dass viele Leser es vielleicht missverstehen.
Dass es klingen könnte, als sollte man sich aus all den aufwühlenden menschlichen Ereignissen wegbeamen an einen Ort der Stille, wo einen nichts berührt. Wo einem der Rest der Welt mehr oder weniger egal ist.
Das meine ich zwar nicht, aber es könnte so klingen.
Petra fand das auch.

Ich werde deshalb bald einen zweiten Teil schreiben, in dem ich näher darauf eingehe.

Und in der Zwischenzeit freue ich mich auf euer Feedback, eure Meinung, eure Sicht, eure Erfahrungen!

 

 


Hier noch ein Tipp für alle
, die zu meiner Lesung in Bielefeld kommen wollen:
Ich werde auf meiner Website Bescheid geben, ob ich es geschafft habe, gesund genug zu werden für die lange Zugfahrt…
…oder ob ich noch unter meiner warmen Decke liege und Ingwerwasser trinke.