Je suis… Paro

Ich sitze mit einer abklingenden Grippe unter warmen Decken (deshalb auch so lange kein Beitrag hier), trinke heißes Ingwerwasser, lese ab und zu die Nachrichten in meiner bevorzugten Online-Zeitung, schaue mir Videoaufnahmen von Eckhard Tolles Vorträgen im Oktober an, mache mir Notizen, um für jede der DVDs einen erläuternden Text zu schreiben, lese wieder die Nachrichten, mache mir eine Hühnerbrühe, gehe eine Runde um den Block und erhalte verschiedene E-Mails, die mich auffordern, mich mit den Opfern der Anschläge in Paris zu solidarisieren.

Doch die einfache, kleine Aussage „Je suis Paris“ widerstrebt mir.
Warum eigentlich?, frage ich mich.
Und dann: Bin ich wirklich Paris?

Seit Tagen höre ich fast nichts außer den Vorträgen von Eckhart Tolle.
Ich lasse sie auf mich wirken, schließe zwischendurch die Augen, spüre die tiefere, stille Ebene in mir, freue mich, dass ich sie – dank meiner Meditationspraxis und den vielen tief gehenden Erfahrungen mit kreativen Prozessen – so schnell und leicht erfahren kann.
Und wenn ich mich dann frage, ob ich wirklich Paris bin, lautet meine ehrliche Antwort: Nein, das wäre entweder viel zu groß oder viel zu klein.

Im kleinen bin ich ja einfach nur diese Person „Paro“, die Identifikation mit diesem Körper und seiner Grippe, dieser Wunsch, schnell gesund zu werden, damit ich nach Bielefeld fahren und eine Buchlesung machen kann.

Im Großen aber bin ich diese innere Dimension von Bewusstheit, von Stille, von Präsenz.
Beim Malen bin ich der kreative Impuls, der in der Gegenwart erscheint. Ich bin sein Ausdruck, der malende Pinsel, die Farbe, die Empfindung, die sie in mir weckt, der äußere Raum, in dem ich male und der innere Raum in dem all diese Wahrnehmungen erscheinen.

Ich bin diese Gegenwart, dieses Bewusstsein. Ich bin das, was IST. Ich bin Paris.
Aber wenn ich Paris bin, bin ich auch Beirut, Damaskus, Mumbai und alle Opfer irgendwelcher Anschläge in der Welt.
Wenn ich aber alle Opfer irgendwelcher Anschläge in der Welt bin, bin ich auch alle Täter irgendwelche Anschläge in der Welt – und ich bin der Geist, der das reflektiert und der größer ist als alle Täter, Opfer, Ereignisse… Der Kopf kann das nicht verstehen, bzw. er wird es missverstehen. Aber in meinem tiefsten Fühlen und Wissen ist klar, dass es stimmt.

Wenn das jetzt der Experte vom Verfassungsschutz liest, könnte er sagen: Sie hat gerade zugegeben, dass sie der Täter war. Wir fahren da jetzt hin, und nehmen sie fest!
Und meine Nachbarin sagt: schön und gut, du bist also alles. Heißt das, wenn einer mit einem Messer auf dich zugeht, dass du dich nicht wehren darfst oder kannst, weil du auch der Täter und das Messer bist?

So denkt der Kopf…
Auch mein Kopf denkt ähnliche Dinge, er will das jetzt erklärt bekommen, während ich Ingwerwasser trinke, Hühnerbrühe esse, (ich bin der Täter, der Hühner umbringt), die letzte GALA lese ( Schweinsteiger mit seiner Verlobten in Manchester), eine Runde um den Block mache, um zu testen, ob ich vielleicht schon wieder gesund bin.

Und als ich auf meiner Runde Fuß vor Fuß setze, komme ich zu dem Schluss:
Ich bin zu allererst das, was ich „Paro“ nenne, hier und jetzt: Ein gewisses Zentrum von Bewusstsein und Unbewusstsein. Und wenn ich mich vom Unbewussten abwende und dem Bewusstsein zuwende, bin ich dieser Stein auf der Straße und die Straße auf der ich gehe, und der Wind, der sich warm gegen mein Gesicht lehnt, und dieser eine Moment, jetzt, und alles, was er enthält: Ein sich vertiefende Geheimnis, eine Offenbarung, die Stille und gleichzeitig alle Klänge, die es gibt.

Und eine tiefe, vibrierende Stimme in meinem Herzen sagt voller Genugtuung: Genau! Das ist Kreativität.
Und mein Kopf sagt gleich danach: Paro, könntest du mir das bitte erklären?

 

PS:
Dann habe ich das oben Geschriebene meiner Freundin Petra gezeigt, weil ich Sorgen hatte, dass viele Leser es vielleicht missverstehen.
Dass es klingen könnte, als sollte man sich aus all den aufwühlenden menschlichen Ereignissen wegbeamen an einen Ort der Stille, wo einen nichts berührt. Wo einem der Rest der Welt mehr oder weniger egal ist.
Das meine ich zwar nicht, aber es könnte so klingen.
Petra fand das auch.

Ich werde deshalb bald einen zweiten Teil schreiben, in dem ich näher darauf eingehe.

Und in der Zwischenzeit freue ich mich auf euer Feedback, eure Meinung, eure Sicht, eure Erfahrungen!

 

 


Hier noch ein Tipp für alle
, die zu meiner Lesung in Bielefeld kommen wollen:
Ich werde auf meiner Website Bescheid geben, ob ich es geschafft habe, gesund genug zu werden für die lange Zugfahrt…
…oder ob ich noch unter meiner warmen Decke liege und Ingwerwasser trinke.

 

Comments

  1. Meine liebe Freundin Paro,
    tief berührt lese ich Deine Reflexionen über dieses „je suis….“ und möchte Dir hiermit sagen, dass ich Dich vollkommen verstehe! Das es mir genauso geht, und dass ich froh bin, mich in deinem Blog Beitrag grau auf weiss wieder zu finden. Ich hatte gestern ein „seltsames“ Erlebnis: ich war in Zürich, um einen alten Freund besuchen und ihn abends im Schauspielhaus in einer Inszenierung der Schillerschen „Jungfrau von Orleans“ zu sehen. Diese moderne Aufführung bezieht sich in von den SchauspielerInnen entwickelten Einschüben auch auf Terrorismus und Gotteskriegertum, hatte also gestern Abend ungeplant eine fast gruselige Aktualität. Nach dem letzten Applaus bat uns einer der Darsteller darum, miteinander für mehrere Minuten in stillem Gedenken innezuhalten. Gern folgten wir dieser Bitte und fanden uns plötzlich in der gemeinschaftlichen Windstille eines allumfassenden „Wir sind“ wieder. Fern ab aller fassungslos bestürzten Berichterstattungen, Kommentare,Kampagnen, Aufforderungen, Analysen und Schreckensbilder. Eine wundervoll lichte Energie entfaltete sich quasi von Null auf Hundert im alten, plüschigen Traditionstheater am Pfauen, kroch in die Ränge, in den Schnürboden, füllte jede Ritze aus.
    120 Menschen schwiegen „nur“, eine gefühlte, unendlich wohltuende Ewigkeit lang, – jede(r )einzelne ein einmaliges „je suis“. ..Wenn man bei „Je suis“ das i weglässt, kommt JESUS dabei heraus. Jesus Christus ist ein Bewusstseinszustand, der alles einschliesst in grenzenloser Liebe und wo jegliche Polarität aufgehoben ist. Von diesem Bewusstseinszustand war in diesen stillen Minuten gestern Abend gegen 22.30h in Zürich etwas auf wundervolle, unspektakuläre Art plötzlich deutlich wahrzunehmen. Es war wie eine Ahnung davon, wie es sein könnte, und wie es eigentlich „gemeint“ ist. Wir verliessen danach auch schweigend alle den Zuschauerraum und holten unsere Mäntel, standen an den Garderoben an. Etwas war geschehen mit uns, schwer erklärbar. Aber mir schien, wir sahen uns alle auch anders in die Augen als zu Beginn des Abends im Foyer. Direkter, wärmer, verstehender, getröstet.
    Heute habe ich lange mit einer Freundin aus Hamburg telefoniert, die mir genau dasselbe erzählte, wie Du beschreibst und wir tauschten uns, ohne dass ich von Deinem Blog wusste, aus über das ICH BIN.
    Vielleicht, -so meine Vision und mein Wunsch-, könnten künftige Schreckens-Kunden (und sie stehen zu erwarten) nicht nur auslösen, was sie für gewöhnlich auszulösen pflegen, seit es Terrorismus gibt, sondern auch bewirken, dass nun immer mehr Menschen in sich selbst schlagartig einen shift erleben, eine Detonation des Geistes, dass sie woanders hin „gehievt“ werden, wie es mir gestern ganz plötzlich zu Teil wurde: eine so tiefe Liebe zum Leben und zu allem, was IST, zu jeglichem „je suis“ und eine unendliche Dankbarkeit durchflutete mich und tut es noch. Ich habe mir versprochen, diese tiefgreifende Erfahrung nie mehr zu „verraten „, indem ich in Gedanken und Gefühlen ein Teil jenes Ölstromes werde, der in solchen Situationen reflexhaft allerorten und auf sämtlichen Kanälen unablässig ins Feuer gegossen wird. Ich will es mit der Stille halten. Und das hat nichts mit Weltfremdheit zu tun. Im Gegenteil.