Viele kleine Bardos

„Bardo“ ist ein Begriff aus dem tibetischen Buddhismus und steht für den Übergang zwischen zwei Zuständen – spezifisch zwischen Tod und Wiedergeburt: wenn wir sterben, wird das, was wir als „unser Leben“ kennen, losgelassen, damit das Neue, uns noch nicht Bekannte beginnen kann.
„Man muss sich auch entscheiden, wenn was Neues kommt“, sagt Monika aus dem Café Miteinander, „entweder man sagt Ich mach Platz dafür, oder man bleibt im Alten stecken.“

Seit meinem letzten Blogbeitrag zum Thema Ungewissheit (Ungewiss) kommen mir solche Hinweise und Ergänzungen überall entgegen.
Ich erfahre, dass es vielen gerade so ähnlich zu gehen scheint wie mir. Etwas Grundlegendes will sich ändern und der Prozess, der dabei angestoßen wird, spiegelt genau diese Welle wider: Loslassen/Tod – Lücke/Zwischenzustand – Neubeginn/Geburt. Das gilt für das Leben als Ganzes wie für einzelne Lebensphasen, aber auch für jede kleine Veränderung, jeden einzelnen Atemzug.

Jeder Atemzug ein kleines Bardo
Diese etwas abgeänderte Übung stammt aus dem Buch In Love with the World* von Yongey Mingyur Rinpoche, in dem er unter anderem über eine eigene Bardo-Erfahrung erzählt.

Beim Einatmen richte dein Gewahrsein auf die Kühle der einströmenden Luft
Beim Ausatmen auf die Wärme der ausströmenden Luft
Auf den Bauch, der sich hebt
und senkt
Weitet
und zusammenzieht
Die Brust, die sich weitet
und zusammenzieht
*
Alles ist in Bewegung… in Veränderung
Ich bin ein Teil des Universums. Diese Luft ist ein Teil des Universums. Mit jedem Atemzug verändert sich das Universum.
*
Jede Empfindung kommt und vergeht. Jeder Atemzug kommt und vergeht.
Mit jedem Ausatmen stirbt das alte Ich. Mit jedem Einatmen wird es neu geboren.
Mein Körper wandelt sich. Die Jahreszeiten wandeln sich. Regierungen wandeln sich. Der Planet wandelt sich. Das ganze Universum wandelt sich
von Atemzug zu Atemzug.
Erlaube es. Lasse es zu.

Hier eine Audio-Datei mit dieser Übung:


Womit wir wieder mal bei der Kreativität wären

(Ja, darum geht es in meinem Blog doch letztlich immer…)


Wer kennt nicht die vielen kleinen und großen Bardos beim Malen, die Lücken, die auftreten
– wenn im Malprozess die stimmige Welle, der Flow ausläuft und noch keine neue zu spüren ist
– wenn ein Bild fertig ist und wir mal wieder vor der weißen Leinwand sitzen
– wenn es uns an Inspiration, Lust, Motivation mangelt und alles leer erscheint
– wenn eine neue Inspiration auftaucht, wir aber Angst haben, unser Bild zu verderben und deshalb lieber gar nichts – oder etwas Beliebiges, Gefälliges, vom Kopf Diktiertes – malen.
– wenn es in solchen Momenten darum geht, die Idee vom „schönen Bild“ loszulassen und dem zu vertrauen, was von selbst auftaucht.

Meine Lehrerin Michele Cassou nennt diese Lücke Point Zero – den Nullpunkt. Sie sagt: „Am Nullpunkt ist alles möglich. Er ist die Zeit zwischen zwei Gedanken, der Raum zwischen zwei Atemzügen, ein Ort der Ruhe ohne Bewegung, an dem der Geist still ist. Ein Ort, der schwanger ist mit Möglichkeiten.“
Aus ihm entsteht alles Neue im Leben – und beim Intuitiven Malen üben wir, ihm zu vertrauen.

* In Love with the World, Yongey Mingyur Rinpoche, bluebird books for life
Bild: Quelle leider unbekannt – Autor bitte melden, dann fügen wir sie hinzu