Cliffhanger, Michelangelo und miese Schreibe…

…oder Teil 2 des Blogs vom 17.10., den ich mit einem Cliffhanger abgeschlossen hatte, und der sich bei nochmaligen Lesen als ein Stück miese Schreibe entpuppt. Peinliche drei Mal das Adjektiv „wunderbar“ (das ich dann nachträglich gelöscht habe) in einem einzigen Absatz. Und mehr.

Beim Bloggen gerate ich manchmal in Gefahr, zu schnell auf „publish“ zu drücken, besonders, wenn ich gerade in kreativer Hochstimmung und von meinen Texten vollkommen überzeugt bin. Der alte Tipp, Texte vor dem Veröffentlichen 1-2 Tage in einer Schublade zu lagern und sie dann, wenn nötig, noch einmal zu überarbeiten, ist für Blogposts ungeeignet. Hier muss ich mir meine Gewohnheit abschminken, etwas Cooles hinzuschludern und später noch einmal zu polieren. Stattdessen: Entspannt und gegenwärtig schreiben, 100% wach, ganz bei der Sache – und dann ohne Bedauern loslassen. Klingt wie ein Tipp über das Leben aus einem Handbuch für Meditation!

Und was ist ein Cliffhanger? Gejagt von den Bösen hängt der Held am Ende des letzten Kapitels am Abgrund (Cliff) und keiner weiß, ob er es schaffen wird, zu überleben. Wir sind also quasi gezwungen, den nächsten Band zu kaufen, den Fortsetzungsfilm zu sehen, den nächsten Blogeintrag zu lesen…
Die Fragen, die im vorletzten Eintrag dieses Blogs offen blieben, hatten für mich Cliffhanger-Qualität: Was hat die Verschandelung eines Rothko-Bildes (sei sie nun Kunst oder nicht) mit meiner Idee von Kreativität zu tun? Und wie kommt Michelangelo bei dem Ganzen ins Spiel?

In meiner Sicht hat Kreativität nichts mit Ideen zu tun, die, wenn sie originell genug sind, den Wert eines Kunstwerks oder eines künstlerischen Akts ausmachen. Um Kreativität schaffend zu erleben, muss mir nichts „einfallen“, das ich dann umsetze. Ideen und Einfälle stehen dem Prozess nur im Wege (wie auch Robert Rauschenberg bekräftigte). Beim kreativen Tun „empfange“ ich in jedem Augenblick frische Impulse, quasi „aus dem Nichts“, die ausgedrückt werden wollen und einer aus dem anderen entstehen. Das ist, als sei die Form, die sich dabei bildet, schon als Potenzial (im Unsichtbaren) vorhanden. Und von Impuls zu Impuls, von Ausdruck zu Ausdruck vollendet sie sich.

Ich diene also nicht einer „Idee“, die ich mal hatte, und die ich in meinem Kopf gespeichert habe und jetzt so gut wie möglich nachzuempfinden versuche, sondern ich bin ausführendes Organ in einem Ereignisstrom des Entstehens und Enthüllens. Wenn ich im Fluss bin. Dass es zum Schluss Nachbesserungen gibt, falls veröffentlicht wird, steht dazu nicht im Widerspruch. Und über die Kunst, immer wieder in Fluss zu kommen, habe ich in meinem Buch mehr geschrieben, als hier Platz hat. Aber was Michelangelo mit den Ganzen zu tun hat, erzähle ich noch kurz.

In der neulich erwähnten Ausgabe der ZEIT kann man in der Kolumne Klarer Denken von Wolf Dobelli folgendes lesen: Der Papst fragte Michelangelo: „Verraten Sie mir das Geheimnis Ihres Genies. Wie haben Sie die Statue Davids erschaffen – dieses Meisterwerk aller Meisterwerke?“  Michelangelos Antwort: „Ganz einfach. Ich entfernte alles, was nicht David ist.“
Und was die Kreativität angeht: Wir lassen einfach alles weg, was nicht der sich enthüllenden Form dient.

Das Gemälde Michelangelos „Die Erschaffung des Menschen“ in der Sixtinischen Kapelle feiert übrigens gerade seinen 500. Geburtstag.