Kreativ Schreiben im Winter

Spinnen und Geschichten erzählen
am Kamin

In ihrem berühmten Buch „Der Weg des Künstlers“ präsentiert Julia Cameron gleich am Anfang zehn Prinzipien – quasi die zehn Gebote der Kreativität. Und auch meine Lehrerin Michele Cassou bezieht sich immer wieder auf bestimmte Prinzipien, die für jeden kreativen Prozess gelten.

Diese Prinzipien sind nicht vernünftig,
sie sind oft nicht logisch,
man kann sie nicht beweisen
und sie behaupten Dinge, die bei manchen Menschen Widerstände wecken.
Aber in anderen – zum Beispiel in mir – bringen sie etwas zum Schwingen und wirken beflügelnd.

Man höre sich zum Beispiel mal das an:
„Unsere kreativen Sehnsüchte kommen aus einer göttlichen Quelle. Indem wir uns auf unsere Träume zu bewegen, bewegen wir uns auf unsere Göttlichkeit zu.“
Oder das hier:
„Wir selbst sind Schöpfungen. Darum sind wir dazu bestimmt, uns kreativ auszudrücken und die Kreativität durch uns weiterströmen zu lassen.“

Das sind Dinge, die kann man nicht denken – man muss sie erleben.
Und um sie zu erleben, muss man sich trauen, einfach anzufangen.
Und immer wieder anzufangen.
Und loszuschreiben.
Und sich zu verirren. Und festzufahren. Und zu verzweifeln.
Und trotzdem immer wieder anzufangen.
Und weiterzumachen.

Mit anderen Worten, Kreativität kann manchmal ziemlich viel Geduld brauchen!

Aber: Was für eine bessere Zeit, geduldig kreativ zu sein, als der Winter mit seinen langen Abenden, seinen stillen Nächten, seinen gemütlichen, warmen Zimmern und seinen eisigen Winden, die einen immer wieder in die Nähe eines Kamins, einer Heizung, eines Ofens treiben, wo man mit Stift und Schreibblock sitzen und die Worte empfangen kann, die unter der geschlossenen Tür durchhuschen und auf dem Blatt erscheinen möchten.

Hier eine Übung, die dir helfen könnte, deine eigenen winterlichen Worte und Geschichten zu spinnen und auszudrücken.

Die Übung

Du brauchst einen Stift, mit dem du gerne schreibst, oder – besser noch – mehrere verschiedene Stifte, auch Buntstifte. Außerdem dein Schreibbuch, deinen Schreibblock oder einen Stapel Papier und eine feste Unterlage.
So ausgerüstet setzt du dich an deinen Kamin, neben deinen Ofen, in die Nähe deiner Heizung.

Ein paar Kekse und etwas warmes zu trinken stören nicht beim Schreiben, im Gegenteil. Man muss nur „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust gelesen haben, um zu wissen, welch endlos kreative Wortströme das Eintunken einer einzigen Madeleine in eine Tasse Tee erzeugen kann!

Lehne dich bequem zurück, lasse deinen Körper entspannen, schließe die Augen.

Spüre deinen Körper, deine Gegenwart in diesem Moment.
Nun lade deine Träume ein, dich zu besuchen. Alle Träume sind willkommen, nur Alpträume müssen etwas warten. Dies ist nicht ihre Zeit.

Erlaube dir mit deinen Buntstiften auf dem Papier zu krakeln, Kurven zu ziehen, Kreise zu fahren.
Dann schwinge dich in eine Kreisrichtung ein und lass deine Hand große, kleine, enge und weite Kurven ziehen.
Nach und nach entsteht ein unregelmäßiges, aus Linien geformtes Mandala – wie die Spuren eines Autos, das an einem Kreisverkehr immer weiter fährt, ohne das Rund zu verlassen.

Spüre, wie gut es tut, einfach auf diese Weise zu kreisen. Es macht geduldig, holt dich in den gegenwärtigen Moment, bringt dich zurück in dein Zentrum.

Einfach drehen und fließen lassen und sehen, was deine göttliche, kreative Natur dir beschert. Und wenn es „nur“ ein Kreis aus Stiftspuren ist!

Nun sage beim Kreisen zu dir selbst: „Im Zentrum meines Kreises ist…“ und schau, was kommt! Auf einem separaten Zettel kannst du alles aufschreiben.
Jedes Wort ist erwünscht. Jedes Wort ist ein Geschenk. Keines ist  falsch. Du darfst einfach schreiben, was kommt, ohne es gleich zu verwerfen. Einfach schreiben, kreisen, schreiben…

Bei mir kam zum Beispiel: „Im Zentrum meines Kreises ist eine kleine goldene Prinzessin. Sie sitzt auf einem Thron, ihre langen Haare fließen auf den Boden und den ganzen Berg hinab, auf dem der Thron steht, und sie weint. Sie weint salzige Tränen, die bilden ein Rinnsal, dann ein Flüsschen, einen See, einen breiten Strom. In dem Strom schwimmen Fische, sie schwimmen zum Meer.
Dann war Schluss, und ich kreiste und kreiste, und sagte wieder: „im Zentrum eines Kreises ist…“ Und es kam „Im Zentrum meines Kreises ist eine kleine weiße Prinzessin, die ist aus kaltem Stein und kann nicht weinen…“

So ging es immer weiter, und jetzt habe ich eine kleine, merkwürdige, sehr märchenhafte Geschichte, die ich meinen Freunden erzählen kann, wenn sie mit mir im Winter am Ofen sitzen.

Probier es aus!

(Foto: Renate Erdsiek)

Spinnen