Im Fluss zu sein braucht Mut

Wie neu geboren

Noch nie habe ich so bewusst wahrgenommen, dass der Jahresanfang  das Gefühl in mir weckt, gerade neu geboren zu sein. Mag sein, dass das mit meiner persönlichen Geschichte zu tun hat, doch mir kommt es eher vor wie eine kollektive Erfahrung, die ich mit vielen anderen teile. Vielleicht auch mit der einen oder anderen  meiner Leserinnen… (würde mich interessieren).

Was ich erlebt habe, war ein intensives Gefühl des Gehalten- und Geborgenseins während der Rauhnächte. Die Strukturen und Übungen haben natürlich stark dazu beigetragen – und auch das Wissen, mit anderen in Verbindung zu sein. Die Idee, eine neue, weiterführende Struktur für das neue Jahr zu entwickeln und hier vorzustellen, entsprang auch dem Wunsch, dieses geborgene Gefühl zu verlängern. Das heißt, ich habe die Übungen und Abläufe zuallererst für mich selbst entwickelt: Sie sind der Ausdruck eines tiefen Bedürfnisses nach Eingebundensein.

BlogJan2Doch dieses Bedürfnis haben sie bislang nicht befriedigt:
Anders als in den Rauhnächten fühlte ich mich die letzte Woche merkwürdig allein und ausgesetzt.

Bei tieferem Nachforschen kam mir ein Bild für meine Empfindungen und Gefühle: Es war, als hätte ich über Weihnachten und Neujahr in einer Art Kokon leben dürfen.
Ein wenig wie im Mutterleib – geschützt, geborgen, gehalten. Und als hätte sich mit dem neuen Jahr und dem Ende der Rauchnächte ein endlos weiter – aber auch kühler, unerforschter – Raum vor mir aufgetan, der mich einlud, ihn zu betreten.

Solange mir das nicht klar war, erlebte ich nichts als Widerstand gegen dieses ungeborgene Gefühl. Ich wollte an etwas festhalten, das (im Moment jedenfalls) vorbei war. Das weihnachtliche Geschenk der Geborgenheit und Zugehörigkeit hatte sich in eine neue Einladung verwandelt: „Paro, hier ist die Welt, das Leben, das Unbekannte – und es wartet darauf, von dir entdeckt zu werden.“

Wie ein Neugeborenes wurde ich gerufen, mich auf eine endlos weite, unbekannte Welt einzulassen und sie mit allem, was sie enthielt, zu erkunden.
Eine völlig andere Haltung war gefragt, andere Eigenschaften wurden gebraucht: Mut, Entdeckerfreude, innere Stärke – und die Fähigkeit, mir selbst Wärme und Schutz zu geben und mich um meine Zugehörigkeit zu anderen Menschen (den Kokon) selbst zu kümmern.

Mit dem Neuen Jahr war eine neue Phase angebrochen und als mir das schließlich klar wurde, verwandelte sich mein Widerstand in Neugier und Interesse: Was mich die Beschäftigung mit kreativen Prozessen gelehrt hat (und immer noch lehrt), ist die Fähigkeit, jederzeit meine Perspektive zu ändern, neue Gegebenheiten zu erforschen, mich dem Unbekannten zu öffnen. Beim Malen und Schreiben müssen wir das ständig üben – und im Leben kommt es uns zugute! Denn genau wie der kreative Prozess ist auch das Leben ständig im Fluss, in Veränderung, im Wandel und wir müssen lernen, jede neue äußere und innere Landschaft voller Interesse zu erforschen, ihr gerecht zu werden und uns gleichzeitig treu zu bleiben.

Um das genaue Hinspüren und Forschen, das wir für diese tänzerische Beweglichkeit brauchen, zu unterstützen, möchte ich in dieser zweiten Übungswoche dazu anregen, die Übungen vom letzten Mal etwas zu vertiefen. Und ich wünsche euch Entdeckerfreude und Mut!

Januar, Woche 2 – Übungen und Strukturen

Hier meine Anregungen für die zweite Woche:

a)
 Mache die “Stopp”-Übung weiter wie letzte Woche (wer neu dazugekommen ist, bitte nachlesen). Aber nimm dir wenigstens einmal am Tag etwas mehr Zeit, um sie zu vertiefen.
Gib dem Körperbereich, der im Vordergrund deiner Aufmerksamkeit steht, die Chance, sich zu äußern. Atme sanft dorthin und empfange seine Botschaft: Welche Farbe scheint dieser Bereich zu haben, welche Bilder tauchen auf, welche Worte, Bewegungen oder Formen stehen mit ihm in Verbindung?
Sei einfach locker und aufnahmebereit, ohne etwas Spezielles zu erwarten!
Manche Menschen sehen eher Farben, andere hören Klänge oder Stimmen, fühlen Texturen oder erinnern sich an Geschichten. Was immer auftaucht, nimm es dankbar in Empfang und notiere es auch in deinem Heftchen.
Wenn nichts auftaucht, notiere einfach „Nichts“ – und bleibe weiterhin offen! Beim nächsten Mal wirst du vielleicht feststellen, dass das Nichts so etwas wie Nebel ist oder Luft, Leere, Weite, Enge, was auch immer. Übe, deine spezielle Art der Innenwahrnehmung besser kennen zu lernen!
Nächste Woche werden wir damit weitergehen.

b)
 Die zweite Übung bleibt unverändert: Berühre einmal am Tag eine Hand mit der anderen, eine Wange, eine Schulter oder einen anderen Teil deines Körpers. Halte die Berührung einen Moment, schließe die Augen und stelle dir vor, dass du jemanden berührst, den du liebst. Bleibe ein paar Atemzüge in diesem liebevollen Kontakt, dann öffne langsam die Augen und mache weiter mit dem, was du gerade tust.

c)
 Auch die dritte Übung bleibt bestehen: Lege dir ein kleines Büchlein zu und lege es mit einem Stift neben dein Bett. Abends vor dem Einschlafen schreibe eine konkrete Sache auf, für die du dem Körper an diesem Tag dankst. Stell es dir noch einmal vor, hülle deinen Körper in Dankbarkeit und spüre, wie sich das im gegenwärtigen Moment auf den Körper auswirkt.

Außerdem empfehle ich dir, die Übungen, die dir guttun, in einem separaten Heft aufzuschreiben. Bis wir mit diesem Prozess fertig sind, werden einige zusammenkommen! Wenn du diejenigen, die für dich passen, aufschreibst, hast du zum Schluss ein Übungsbuch speziell für dich.
Ich habe schon lange ein solches Buch, und immer, wenn ich den Überblick verliere und in alten Mustern festfahre, hole ich es vor und lese nach, was mir hilft. Das hilft mir, mich daran zu erinnern, dass ich mich stets und überall am eigenen Schopf aus dem Schlamm ziehen kann…